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Überpsychologisierung
Know-how & Do-how for Coaches
Lesedauer: ca. 6 Minuten
Aktuelle Begriffe aus der Coachingwelt einfach und praxisnah erklärt.
Lerne in diesem Monat den Begriff «Überpsychologisierung» kennen – erfahre durch Sonja Kupferschmid, Geschäftsführung, was darunter zu verstehen ist und wie du dieses Wissen in deinen Praxisalltag als Begleitungsperson wirkungsvoll integrieren kannst.
Überpsychologisierung
Überpsychologisierung beschreibt einen gesellschaftlichen Trend, bei dem psychologische Konzepte und Erklärungsmodelle übermässig auf alltägliche Lebenssituationen angewendet werden. Es ist der Versuch, jedes Verhalten, jede Emotion und jede zwischenmenschliche Interaktion durch die Brille der Psychologie zu betrachten und zu erklären. Was früher als normale Höhen und Tiefen des Lebens gesehen wurde, wird heute oft vorschnell psychologisch gedeutet und analysiert.
Diese Entwicklung wurde besonders durch die Pandemie verstärkt, die für viele Menschen eine Zeit intensiver Selbstreflexion darstellte. Während die zunehmende Aufmerksamkeit für psychische Gesundheit grundsätzlich positiv ist, kann die Überpsychologisierung dazu führen, dass Menschen die Fähigkeit verlieren, alltägliche Herausforderungen als normal zu akzeptieren und eigenständig zu bewältigen (Ambauen & Meyer, 2024).
Psychologie als ständiger Begleiter
Psychologische Inhalte haben sich zu einem allgegenwärtigen Element unseres täglichen Lebens entwickelt. Öffnen wir soziale Medien, werden wir mit einer Flut von psychologischen Ratschlägen, Selbsthilfe-Tipps und vermeintlichen Expertenmeinungen konfrontiert. Der Algorithmus von Google, Sozialen Medien und Co führen dann zu einer Omnipräsenz der Psychologie. Googeln wir einmal nach einem psychologischen Thema, werden uns fortan ähnliche Inhalte angezeigt. Dies führt dazu, dass wir ständig mit psychologischen Themen konfrontiert werden. Das Ergebnis ist eine nie endende Spirale der Selbstverbesserung: Wir sollen stets an uns arbeiten, uns weiterentwickeln und zu einer "besseren Version" unserer selbst werden. Diese permanente Konfrontation mit psychologischen Inhalten kann dann zu einer selektiven Wahrnehmung im Alltag führen. Ähnlich wie wir plötzlich überall die gleichen Schuhe sehen, nachdem wir uns entschieden haben, ein bestimmtes Modell zu kaufen, beginnen wir auch, überall psychologische Phänomene zu erkennen, ob sie nun tatsächlich vorliegen oder nicht (Ambauen & Meyer, 2024).
Überpsychologisierung im Sprachgebrauch
Ein besonders auffälliges Merkmal der Überpsychologisierung zeigt sich in unserem alltäglichen Sprachgebrauch. Begriffe wie «Burnout», «Depression», «Trauma» oder «Narzissmus», die ursprünglich dem klinisch-psychologischen Kontext entstammen, sind heute fest in unserer Alltagssprache verankert. Diese Entwicklung hat zwei Seiten: Einerseits trägt sie zur wichtigen gesellschaftlichen Entstigmatisierung psychischer Erkrankungen bei. Es ist heute normaler geworden, therapeutische Hilfe in Anspruch zu nehmen und psychische Gesundheit ist kein Tabuthema mehr. Andererseits führt sie aber auch zu einer problematischen Verwässerung dieser Fachbegriffe.
Dabei werden häufig normale Lebensereignisse oder persönliche Eigenschaften vorschnell mit klinischen Begriffen "gelabelt". Ein Beispiel: Während ein echtes Burnout oder eine klinische Depression schwerwiegende Erkrankungen sind, die professionelle Behandlung erfordern, wird heute oft schon eine stressige Lebensphase als "Burnout" bezeichnet. Ähnlich verhält es sich mit dem Begriff "Trauma", der nicht jeden Erziehungsfehler der Eltern beschreibt, sondern tatsächlich einschneidende, oft lebensbedrohliche Erlebnisse bezeichnet.
Diese sprachliche Inflationierung hat weitreichende Folgen: Zum einen werden dadurch echte psychische Erkrankungen relativiert. Wenn jeder schon mal ein "Burnout" hatte, besteht die Gefahr, dass Menschen mit einer tatsächlichen Erkrankung weniger ernst genommen werden. Zum anderen kann diese Begriffsverwässerung dazu führen, dass die eigene Handlungsfähigkeit und Selbstverantwortung unterschätzt werden. Während man schwierige Lebensphasen oft aus eigener Kraft überwinden kann, benötigen echte psychische Erkrankungen professionelle Unterstützung.
Das Überpsychologisieren kann dazu führen, dass Menschen das Vertrauen in ihre eigene Resilienz verlieren und deswegen für jede Herausforderung professionelle Hilfe suchen. (Ambauen & Meyer, 2024; Gschwandtner, 2024).
Praxistipp für Begleitungsprozesse
Was bringt mir dieses Wissen in der Praxis?
In der Coaching-Praxis zeigt sich ein deutlicher Wandel: Klientinnen und Klienten suchen häufiger kurzfristige Hilfe statt langfristiger Lösungen. Dabei geht es oft mehr um schnelle Optimierung als um nachhaltige Entwicklung. Coaches stehen vor der Herausforderung, diesem Trend entgegenzuwirken und eine gesunde Balance zu finden. Wichtig ist dabei die Unterscheidung: Wann ist professionelle Hilfe wirklich notwendig, und wann handelt es sich um normale Lebensphasen, die man auch alleine bewältigen kann? Ein guter Coach sollte vor allem als Wegbegleiter fungieren, der hilft zu normalisieren und zu entschleunigen. Dabei ist es wesentlich, die Klienten darin zu bestärken, auch mal innezuhalten und nicht jedem Optimierungsimpuls nachzugeben.
Gleichzeitig gilt es, das Vertrauen der Menschen in ihre eigenen Fähigkeiten zu stärken und sie daran zu erinnern, dass sie viele Herausforderungen aus eigener Kraft meistern können. Ein weiterer wichtiger Aspekt der Coaching-Arbeit liegt darin, die Bewusstheit für die eigenen Bedürfnisse und Grenzen zu fördern, sodass Klienten besser einschätzen können, wann professionelle Unterstützung wirklich notwendig ist. Nicht jeder Mensch braucht Coaching oder Psychotherapie, und nicht jedes unangenehme Gefühl muss sofort analysiert und "geheilt" werden. Manchmal reicht es auch, Gefühle einfach zu akzeptieren und sein zu lassen. Die Kunst liegt darin, einen gesunden Mittelweg zu finden zwischen hilfreicher Selbstreflexion und übertriebener Selbstanalyse (Ambauen & Meyer, 2024).
Quellenangaben
Gschwandtner, B. (2024, 10. März). Überpsychologisierung. Praxis LebensWert. https://www.lebenswert-beratung.at/blog/uberpsychologisierung
Ambauen, F. & Meyer, S. (2024, 29. März). 89 Bedürfniskult – Oder über die Überpsychologisierung. Beziehungskosmos [Podcast]. https://podcasts.apple.com/de/podcast/89-bed%C3%BCrfniskult-oder-%C3%BCber-die-%C3%BCberpsychologisierung/id1501675123?i=1000650802357
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{Was genau ist mit dem Begriff "Überpsychologisierung" gemeint?}
Überpsychologisierung bezeichnet den Trend, psychologische Konzepte übermässig auf Alltagssituationen anzuwenden. Normale Lebensereignisse werden dabei vorschnell psychologisch gedeutet, anstatt sie als natürliche Höhen und Tiefen zu akzeptieren. Dieser Trend wurde besonders durch die Pandemie verstärkt.
{Wie äussert sich Überpsychologisierung im Sprachgebrauch?}
Im Alltag zeigt sich Überpsychologisierung durch die inflationäre Verwendung klinischer Begriffe wie "Burnout", "Depression" oder "Trauma" für normale Lebensereignisse. Diese Entwicklung trägt zwar zur Entstigmatisierung psychischer Erkrankungen bei, führt aber gleichzeitig zur Verwässerung der Fachbegriffe.
{Welche Rolle spielen soziale Medien bei der Überpsychologisierung?}
Soziale Medien konfrontieren uns ständig mit psychologischen Ratschlägen und Selbsthilfe-Tipps. Die Algorithmen verstärken diesen Effekt: Suchen wir einmal nach einem psychologischen Thema, erhalten wir fortlaufend ähnliche Inhalte und entwickeln eine selektive Wahrnehmung für psychologische Phänomene.
{Welche negativen Auswirkungen kann Überpsychologisierung haben?}
- Verlust des Vertrauens in die eigene Resilienz
- Relativierung echter psychischer Erkrankungen
- Übermässige Abhängigkeit von professioneller Hilfe
- Ständiger Selbstverbesserungsdruck
- Unterschätzung der eigenen Handlungsfähigkeit
{Wie können Coaches dem Trend der Überpsychologisierung entgegenwirken?}
- Situationen normalisieren und entschleunigen
- Das Vertrauen der Klienten in ihre eigenen Fähigkeiten stärken
- Zum Innehalten ermutigen statt ständiger Optimierung
- Bei der Unterscheidung zwischen normalen Lebensphasen und echtem Hilfebedarf unterstützen
- Einen gesunden Mittelweg zwischen hilfreicher Selbstreflexion und übertriebener Selbstanalyse fördern
[aende]