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Umgang mit Rassismuserfahrungen und -anschuldigungen

Artikel von Claudia Meierhans, Dozentin IZB, PH Zug

«Sie sind rassistisch!»

Sind Sie auch schon als rassistisch bezeichnet worden? Was löst dieser Satz bei Ihnen aus? Und wie würden Sie auf eine solche Anschuldigung reagieren?

Viele Menschen der (weissen) Mehrheitsgesellschaft sind überzeugt, keine rassistischen Handlungen vorzunehmen. Doch der aktuelle Grundlagenbericht zu strukturellem Rassismus in der Schweiz (SFM, 2022) legt dar, dass Rassismus in der Schweiz ein weit verbreitetes, jedoch meist unerkanntes Phänomen ist. Insbesondere in den Lebensbereichen Arbeit, Politik/Behörden/Einbürgerung, soziale Sicherheit, Polizei und Bildung gibt es klare Hinweise zur Existenz von strukturellem Rassismus. Während also die Mehrheitsgesellschaft – oft unbeabsichtigt und unbewusst - Ungleichheiten in politischen, wirtschaftlichen und sozialen Strukturen reproduziert, fühlen sich die von Rassismus betroffenen Menschen benachteiligt, ausgegrenzt und verletzt.

Tupoka Ogette, Expertin für Rassismus und aufgrund ihrer Hautfarbe selbst von Rassismus betroffen, hat in ihrer jahrelangen Tätigkeit als Trainerin, Beraterin und Coach immer wieder festgestellt, dass Menschen, die selbst nicht von Rassismus betroffen sind, wenig (Dialog-)bereitschaft zeigen, um eigene und gesellschaftliche rassistische Muster zu erkennen. Dies wäre aus Sicht von Ogette jedoch zwingend notwendig, um gesellschaftliche und strukturelle Veränderungen herbeizuführen. In ihrem Buch «Exit racism» (2020) fasst sie ihre beruflichen und persönlichen Erfahrungen unter anderem in der Beschreibung von «Fünf Phasen im Umgang mit dem eigenen Rassismus» zusammen. Sie hat nämlich festgestellt, dass Menschen auf den Satz «Du bist rassistisch» sehr unterschiedlich reagieren. Dabei sieht sie die Phasen nicht zwingend als Entwicklungsphasen, die Menschen chronologisch durchlaufen, sondern auch als Möglichkeiten, wie Menschen je nach Kontext und Situation mit ihrem eigenen Rassismus umgehen.

Phase 1 – Happy Land: In dieser Phase wird Rassismus negiert. Es ist viel wichtiger, nicht als rassistisch gesehen zu werden, als sich tatsächlich auf ein Gespräch über Rassismus einzulassen.

Phase 2 – Abwehr: In dieser Phase wird eine Person sehr schnell empört oder wütend, wenn ihr jemand suggeriert, sie hätte etwas Rassistisches gesagt oder getan. Dabei nimmt die Person beim Thema Rassismus eine innere Verteidigungshaltung ein und hat überhaupt nicht das Gefühl, dass Rassismus etwas mit ihr zu tun hat.

Phase 3 – Scham: In dieser Phase schämt sich eine Person für die Geschichte des Rassismus und allenfalls auch dafür «weiss» zu sein. Die Person hat ein schlechtes Gewissen, weil sie erkennt, dass sie gewisse rassistisch geprägte Situationen nicht erkannt hat.

Phase 4 – Schuld: In dieser Phase fühlt sich eine Person schuldig dafür, «weiss» zu sein. Sie erinnert sich an Situationen, in denen sie rassistisch gehandelt hat oder Rassismus nicht sehen wollte und fühlt sich dafür schuldig.

Phase 5 – Anerkennung: In dieser Phase beginnt die Person anzuerkennen, dass Rassismus real und als System wirkmächtig ist. Durch die Anerkennung des Systems sowie der eigenen Positionierung innerhalb des Systems kann sie konstruktive Handlungsoptionen entwickeln, um Rassismus als System zu dekonstruieren.

Für das interkulturelle Coaching bedeutet dies, dass es von grosser Bedeutung ist, dass sich der Coach seiner eigenen Herkunft, sozialen Prägung und Einbettung in soziale, wirtschaftliche und politische Strukturen bewusst ist und dass er seine Normalitätsvorstellungen und Stereotypen reflektiert und auch darauf achtet, selber keine rassistischen Strukturen zu reproduzieren. Dabei stellt sich dem Coach allenfalls auch die Frage, ob respektive unter welchen Voraussetzungen ein Coach, der nicht von Rassismus betroffen ist, eine Kundin/einen Kunden mit Rassismuserfahrungen begleiten kann und wo Grenzen einer solchen Begleitung sein können. Dies auch im Hinblick auf die Tatsache, dass Rassismuserfahrungen durchaus traumatisierende Wirkungen haben können.

Bei einem Anliegen mit einer Kundin/einem Kunde, der Rassismus-Anschuldigungen erlebt hat, kann es hilfreich sein, zunächst zu verstehen, was genau passiert ist, wie die Kundin/der Kunde auf die Anschuldigungen reagiert hat, was er/sie dabei gedacht und gefühlt hat und wie die Situation verlaufen ist. Diese Informationen können nützliche Hinweise geben, in welcher Phase die Kundin/der Kunde gehandelt hat. Auf dieser Grundlage kann der Coach mit ihr/ihm in einem zweiten Schritt neue Perspektiven und Handlungsoptionen im Umgang mit den eigenen und den gesellschaftlichen rassistischen Mustern erarbeiten. Dies kann beispielsweise mit einem Rollenspiel, einer systemischen Aufstellung oder einem Werte- und Entwicklungsquadrat initiiert werden.


Literatur 

Ogette, Tupoka (2020). Exit racism. Rassismuskritisch denken lernen. Münster: UNRAST-Verlag

Swiss Forum for Migration and Population Studies SFM (2022). Grundlagenstudie zu institutionellem Rassismus in der Schweiz.

 

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