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Interview mit Ondine Riesen, Zukunftsgestalterin und Mitgründerin der Ting.Community

Ondine Riesen, Mitgründerin der Ting.Community, ist ein leuchtendes Beispiel für persönliches Wachstum. Neben ihrem unternehmerischen Engagement hat Ondine eine bedeutende Station auf ihrem beruflichen Weg absolviert: die Ausbildung zur betrieblichen Mentorin mit eidgenössischem Fachausweis beim Coachingzentrum. Diese Erfahrung hat nicht nur ihren Lebensweg massgeblich beeinflusst, sondern auch ihre Perspektive auf die persönliche Entwicklung verändert. Erfahren Sie im Interview, wie dieser Lehrgang ihr Verständnis für wirkungsvolles Mentoring geformt und ihre Karriere bereichert hat.

Interview mit Ondine Riesen

Ondine Riesen, Sie haben 2020 die Ting.Community mitgegründet und während dieser Zeit auch die Ausbildung zur betrieblichen Mentorin mit eidg. Fachausweis beim Coachingzentrum absolviert. Inwiefern hat dieser Lehrgang Ihren Lebensweg beeinflusst?

Als spätdiagnostizierte neurodivergente Person ist mein Selbstvertrauen komplett unterentwickelt geblieben, da ich viel Kritik ausgesetzt war, ohne zu verstehen, warum. Mit der Ausbildung habe ich Tools kennen gelernt, die mir durch den Alltag helfen. Es wurde mir auch bewusst, welche Ressourcen mir fehlen und wie ich diese aktivieren beziehungsweise durch andere kompensieren kann. Das war ein Game Changer. Gleichzeitig wuchs meine Erkenntnis, dass ein Ziel erreichbar ist, wenn es klar definiert und der Weg dahin strukturiert ist. Seitdem reihen sich Meilensteine aneinander, während mein Leben zuvor eher zufällig ablief.

Könnten Sie uns die Philosophie hinter der Ting.Community erklären und wie die Idee dazu entstanden ist? Wofür steht der Name?

Grundsätzlich gehen wir davon aus, dass der Mensch tätig sein will. Jede Person hat Ideen, Talente, Lüste, die darauf warten, ausgelebt zu werden. Menschen wollen mitwirken und sich einbringen. Meist jedoch fehlt es an Zeit und Geld. Das ist verschwendetes, ungenutztes Potenzial. Besonders im Hinblick auf fehlende Lösungsansätze in der Multikrise, in der wir uns gesellschaftlich befinden. Bei Ting sind wir der Meinung, dass mehr und andere Menschen sich am Prozess der Lösungsfindung beteiligen sollten. Nicht nur Privilegierte, die es sich leisten können, denn diese verfügen über ähnliche Lebensrealitäten und daraus resultierend auch gleichliegende Sichtweisen. In der Krise braucht es mehr als das. Es braucht Diversität. Darum haben wir auch den Namen Ting gewählt. Er ist eine Ableitung von früheren nordischen Zusammenkünften, in denen gemeinsam beschlossen wurde, welchen Weg die Gemeinschaft gehen wird.

Wie unterscheidet sich Ting von anderen Crowdfunding-Initiativen?

Es geht bei Ting um die Selbstwirksamkeit der Mitglieder. Wir kompensieren mit geteilten Ressourcen, was dem Einzelnen zur Umsetzung der Idee fehlt. Das beschränkt sich nicht auf Geld, sondern beinhaltet auch Tipps, Kontakte und Unterstützung für das Vorhaben. Beim Crowdfunding steht das Projekt im Mittelpunkt, bei Ting liegt der Fokus mehr auf die Person hinter dem Projekt. Vor allem auch, weil beispielsweise in der Förderlandschaft Schweiz Gelder für Denkarbeit und regenerative Pausen eher selten gesprochen werden. Aber das Prinzip der finanziellen Umverteilung aufgrund eines spezifischen Ereignisses ist bei Crowdfunding, Versicherungen, AHV, Steuern, Lotto, und vielen anderen Institutionen der Umverteilung dasselbe. Wir haben das Rad nicht neu erfunden, nur das Vehikel und die Perspektive.

Welche spezifischen Herausforderungen adressiert Ting?

Wir legen grossen Wert auf Chancengerechtigkeit, Selbstwirksamkeit, Teilhabe und Sinnhaftigkeit. Vielen Menschen fehlt mindestens einer dieser Aspekte. Ting ermöglicht durch den Sharing-Ansatz die, wenn wir uns das gegenseitig ermöglichen können. Gemeinsam geht es einfacher, als wenn jeder für sich «wurstelt».

Wie kann man Möglichmacher/in bei Ting werden?

Sie registrieren sich auf der Website und entscheiden dann, ob Sie nur Geld geben oder sich evtl. auch für ein Vorhaben persönlich engagieren möchten. Ab dann zahlen Sie einen monatlichen Mitgliederbeitrag, der umgehend in die Vorhaben der umsetzenden Mitglieder investiert wird. Gleichzeitig können Sie sich mit anderen Mitgliedern verbinden, die vielleicht ähnliche Interessen haben, an Events teilnehmen, im Chat kommunizieren und oder als Prüfer/in mit entscheiden, welche Vorhaben von der Community finanziert werden.

Welche Rolle spielt die Community bei Ting und wie werden Entscheide gefällt, wer Geld erhält?

Die Mitglieder sind über die Plattform miteinander verbunden. Ihnen wird jedoch abgesehen von ihren monatlichen Beiträgen selbst überlassen, ob sie sich aktiv beteiligen möchten oder nicht. Die Vorhaben werden von den Mitgliedern anonym eingegeben. Die freiwilligen Prüfer/innen geben auch anonymisiert ihre Punkte ab, die darüber entscheiden, ob ein Vorhaben unterstützt wird oder nicht. Das Gründerteam hat keinen Einfluss darüber, wie die Community abstimmt. Das läuft demokratisch ab.

Welche Erfolgsgeschichten oder Fallstudien können Sie teilen, die die Wirksamkeit von Ting unterstreichen?

Leute haben zum Teil durch die Unterstützung, die sie von Ting erhalten, ihr Leben umgestellt. Sie können ohne den finanziellen Druck ihre ausgearbeiteten Ideen verfolgen und sich verwirklichen. Manche starten ein kleines Unternehmen, andere beginnen eine Ausbildung oder orientieren sich neu. Manche produzieren ein Produkt, machen sich selbstständig, andere organisieren gemeinnützige Projekte. Die Möglichkeiten sind so mannigfaltig wie die Menschen selbst. Es gibt kein einzelnes Vorhaben, das für alle steht. Gemeinsam ist jedoch, dass das Vorhaben die zukünftige oder aktuellen Lebenssituation des Mitglieds verbessert und einen gesellschaftlichen Mehrwert bringt.

Wie ist Ihr Verhältnis zu Geld: sehen Sie es als notwendiges Übel oder als Ermöglicher?

Früher habe ich Geld als Gut verstanden, das hauptsächlich bei anderen auf dem Konto liegt. Heute weiss ich, dass Geld als unglaublicher Katalysator wirkt. Je weniger man zur Verfügung hat, desto stärker ist die Hebelwirkung, wenn einem plötzlich ein paar Tausend Franken zur Verfügung stehen. Ein Beispiel kann ich trotzdem machen. Das Geld von Ting hat eine junge Frau nebst der Umsetzung ihrer Idee dazu bewegt, ihren aktuellen Job zu kündigen, in eine andere Stadt zu ziehen und ihren Beziehungsstatus zu ändern. Gleichzeitig hat sie aufgehört, Nägel zu kauen und Alkohol zu trinken; dafür treibt sie jetzt regelmässig Sport. Das Wegfallen von existenziellen Ängsten wirkt als enormer Treiber für die Gesundheit der einzelnen Person, letztendlich aber auch für die Gesellschaft, da Energie frei wird für konstruktive Leistungen.

Was sind die nächsten Schritte und Zukunftspläne für Ting?

Wir brauchen genügend Mitglieder, um selbsttragend und unabhängig zu werden. Bis Ting zu 100% eigenfinanziert ist  bzw. wir unsere Löhne und Verwaltungskosten selbst erwirtschaften können (aktuell sind wir bei 50%), sind wir auf die Unterstützung von Förderpartner/innen angewiesen. Die passenden zu finden ist wie die Suche nach der Nadel im Heuhaufen, denn wir stehen mit unserem neuen Ansatz etwas quer in der Förderlandschaft. Wir sind ein zivilgesellschaftliches soziales Unternehmen. Diese Kategorie, obschon es davon in Zukunft noch viele mehr geben wird, ist pionierhaft. Die Strukturen dafür sind in der Schweiz noch nicht geschaffen. Darum halten wir Ausschau nach vermögenden Privatpersonen, die den Wert unserer Arbeit erkennen und willens sind, ihr Geld in unser Leuchtturmprojekt zu investieren.

Zudem lancieren wir unser Firmenangebot; Unternehmen ermöglichen durch ihre Mitgliedschaft bei Ting ihren Mitarbeitenden, sich zu entfalten und können dadurch die Mitarbeiterzufriedenheit positiv beeinflussen. In Zeiten des Fachkräftemangels und einer neuen Generation auf dem Arbeitsmarkt, die nach Sinnhaftigkeit strebt, ist das ein wichtiger Motivationsfaktor.

Seit Anfang 2024 sind Sie mit disuite als selbstständige Coachin tätig und unterstützen Personen in ihrem «Grössenwahn», wie auf Ihrer Homepage zu lesen ist. Brauchte es für diesen Schritt viel Mut, und welche Motivation steckte dahinter?

Mut brauchte es nicht sonderlich. Ich liebe diese Arbeit. Der Moment zum Beispiel wo, man sieht, dass eine gestellte Frage auf fruchtbaren Boden fällt und das Gegenüber dadurch neue Perspektiven erkennt, ist unbeschreiblich schön. Mir liegt sehr viel daran, das innewohnende Feuer meiner Kundinnen und Kunden zu entfachen. Oft haben sie schon eine vage Vorstellung davon, wer sie sein könnten. Sie haben eine Hoffnung, aber wagen nicht, nach den Sternen zu greifen. Manchmal, weil die Ressourcen fehlen, oftmals aber auch, weil Ehrgeiz je nach Sozialisation negativ konnotiert wird. Bei mir nicht. Je kühner der Traum, desto mehr Spass habe ich in meinen Sessions.

Wie unterstützt die Coaching-Haltung Ihre Arbeit oder Ihr Leben allgemein? Welche konkreten Tools und Methoden wenden Sie an?

In meiner Arbeit lege ich penibel Wert darauf, das Ziel sauber zu definieren. Meistens ist es nämlich ein anderes als angenommen. Ist das Ziel und dessen gewünschter Effekt wirklich klar, ist der Rest meist nur noch eine Frage der Organisation. Diese ansteckende Haltung wirkt sich positiv auf meine Kundinnen und Kunden aus. Natürlich kann man bei mir auch sein Herz ausschütten, aber richtig gut wird es mit mir, wenn wir Lösungen anstreben. Ich finde Probleme nur so lange interessant, bis ich sie verstanden habe. Ab dann blicke ich in die Zukunft.

Können Sie anderen betrieblichen Mentor/innen einen Tipp mit auf den Weg geben?

Die richtig guten Dinge entstehen, wenn man «grössenwahnsinnig» ist. Mein Tipp ist daher: Setze dich mit deinen versteckten Träumen auseinander. Das kann beim Autofahren, im Lift, an langweiligen Sitzungen, vor dem Einschlafen, oder beim Spaziergang im Wald passieren. Man muss diese Träume auch noch mit niemandem teilen. Wenn die Erkenntnis klar ist, wonach man wirklich strebt – in der Regel macht es durchaus Angst, und ist «zu gross» – dann sucht man sich jemanden wie mich, und erarbeitet einen realistischen Fahrplan, um den Traum zu verwirklichen.

Und ganz klar: Lernen, um Hilfe zu bitten!


Weitere Informationen:

Ting Community: ting.community
Disuite: disuite.ch
TEDxBiel: Zeit, Geld und Innovationsmacht
SRF Podcast: Ondine Riesen, wieso braucht es mehr Menschen mit Ideen?

Foto: juri-seger.com