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I-Paradoxon

Know-how & Do-how for Coaches im Juni 2023

Lesedauer: ca. 7 Minuten

Lerne in diesem Monat den Begriff «I-Paradoxon» kennen - erfahre durch Karin Sidler, Geschäftsführung, was darunter zu verstehen ist und wie du dieses Wissen in deinen Praxisalltag als Begleitungsperson wirkungsvoll integrieren kannst.

I-Paradoxon

Zuhause ist es am schönsten – selbstbestimmt vom Wohnzimmer aus Aufgaben erledigen und so mehr Zeit für die Familie zu haben ist ein enormer Plusfaktor. New Work und die dazugehörigen neuen Arbeitsformen wirken sich also positiv auf unsere Lebensqualität aus. Doch nebst den vielen Möglichkeiten, bietet die Digitalisierung auch Herausforderungen. Beispielsweise digitaler Stress: Wir erledigen immer mehr Aufgaben an Bildschirmen und Rechnern, dabei können wir aber nach der Betätigung des Off-Knopfes unser Selbst oftmals nicht richtig «abschalten». Die Menge an digitalisierten Aufgaben fordert eine neue unerlässliche Kompetenz; wer sich von technischen Geräten nicht in den Stress bringen lassen will, sollte ein gesunder und gesundheitsförderlichen Umgang mit eben diesem digitalen Stress lernen. Das I-Paradoxon hilft uns dabei, emotionale Spannungsfelder zu reflektieren, um in Zeiten der «Pixel-Flut» an den Vorteilen der Digitalisierung zu wachsen.

Definition

I-Paradoxon ist ein von Prof. Dr. Andreas Krause eingeführter und noch nicht weitverbreiteter Begriff, dessen Phänomen und Auswirkung längst flächendeckend beobachtbar ist: Die Digitalisierung fördert und hemmt gleichzeitig die Gesundheit. I-Paradoxon beschreibt, wie es das Wortspiel erahnen lässt, Widersprüche, die mit arbeitsbezogener Digitalisierung verbunden sind. «Nur wer diese Paradoxien versteht, kann sich mündig mit Flexibilisierung, Beschleunigung und Informationsexplosion auseinandersetzen – und gesund bleiben» (Krause 2021).

Psychische Grundbedürfnisse

Die Ausgangslage für den Begriff I-Paradoxon ist die Selbstbestimmungstheorie aus der psychologischen Motivationsforschung. Die Autoren dieser Theorie gehen davon aus, dass wir am Arbeitsplatz drei wichtige psychologische Grundbedürfnisse haben, um unsere Neugierde und unsere Bereitschaft, neue Herausforderungen anzunehmen (sogenannte intrinsische Motivation) und somit unser Wohlbefinden als auch im gleichen Zug unsere Produktivität zu fördern.

1. Autonomie
Am Arbeitsplatz wollen wir bestenfalls selbst entscheiden, wann wir was erledigen. Autonomie, Eigenständigkeit oder auch Selbstbestimmung ist der Grundstein zur intrinsischen Motivation.

2. Soziale Verbundenheit
Ebenso wollen wir uns zugehörig und geschätzt von anderen Mitarbeitenden fühlen. Dabei möchten wir mit ihnen seelisch als auch kommunikativ verbunden sein, um eine Grundlage für zwischenmenschliche Beziehungen zu haben.

3. Kompetenzerleben
Zu guter Letzt haben wir auf der Arbeit das Grundbedürfnis zu erfahren und zu erleben, dass wir etwas beherrschen. Erreicht wird dies unter Anderem, wenn wir herausfordernde und gleichwohl unserem individuellen Leistungsniveau angepasste Aufgaben mit Selbstwirksamkeit und Kreativität erledigen (Deci, Olafsen & Ryan 2017).

Die drei Spannungsfelder

Die Digitalisierung erlaubt es uns weitestgehend, die oben dargestellten Grundbedürfnisse zu befriedigen. Die Autonomie kann beispielsweise durch Homeoffice und Zugriff auf Geschäftsserver via VPN-Verbindung gewährleistet werden. Die soziale Verbundenheit wird via Video- und Echtzeitkommunikation gepflegt und durch soziale Netzwerke wie zum Beispiel LinkedIn haben wir eine Zunahme der Barrierefreiheit zu passenden, unserem Leistungsniveau entsprechenden Stellen.

Aber die Verwendung dieser technologischen Möglichkeiten birgt ohne Verständnis der daraus generierten Spannungsfeldern Gefahren für unsere Gesundheit. Deshalb ist es als Zukunftskompetenz unerlässlich zu verstehen, wo und wie diese Spannungen, oder eben Paradoxien des Technischen, entstehen (Krause 2021).

1. Spannungsfeld der Ungebundenheit
Die Prämisse des ersten Spannungsfeldes ist klar; arbeiten ist überall und zu jeder Zeit möglich. Wir können unseren Arbeitsort selbst wählen, haben verkürzte bis gar keine Anreisezeit und können auch zu ungewöhnlichen Zeiten arbeiten. Dadurch geniessen wir die ungebundene Freiheit, beispielsweise tagsüber Zeit mit unseren Kindern zu verbringen und abends - wenn diese im Bett sind - Aufgaben für das Geschäft zu erledigen. Gleichwohl kann Stress entstehen: Durch den Verlust der Abgrenzung zwischen Arbeit und Freizeit erhalten wir Telefonanrufe während dem Spaziergang im Park, planen Meetings zu Randzeiten und erleiden einen Verlust an informeller Kommunikation.

2. Spannungsfeld der Beschleunigung
Durch digitale Tools, wie beispielsweise die Funktion der geteilten Dokumentenbearbeitung reduziert sich die Wartezeit. Weiter können mittlerweile viele Routinearbeiten automatisiert werden, was wiederrum Zeitersparnisse einräumt. Dadurch nimmt allerding die Arbeitsintensität zu, indem wir Anfragen auf mehreren Kanälen erhalten und die Erwartung an unsere Reaktionsgeschwindigkeit sowie unsere Verantwortung gesteigert wird.

3. Spannungsfeld der Transparenz in Echtzeit
Profitieren können wir auch dadurch, dass relevante Informationen zeitnah allen Mitarbeitenden zur Verfügung stehen, uns Feedbacks schneller erreichen. Allerdings werden Arbeitsstatus sowie Verfügbarkeit verschleiert. Dadurch nehmen Kontrollen von Vorgesetzten zu, Ranglisten zur Bewertung einzelner Arbeitenden werden erstellt, die Konkurrenz innerhalb eines Teams kann zunehmen, weil zeitliche Puffer verschwinden und wir legen vermehrt Wert auf unsere Selbstvermarktung und stellen uns nur positiv dar (Krause 2021).      

Gesunder Umgang mit «Digitalisierungswidersprüchen»

Um diesen Spannungsfeldern zu entkommen sowie dem daraus ausgelösten Stress auszuweichen, schlägt Krause (2021) folgende Strategien vor:

Um der ständigen Verfügbarkeit zu entkommen, braucht es Seitens des Unternehmens klare Time-Out Fenster, die für alle gelten. Ebenso könnten die Geschäftsserver ab einer bestimmten Zeit, beispielsweise neun Uhr abends und an Wochenenden abgestellt werden. Weiter sollen ebendiese Grenzen gemeinsam als Team und Firma definiert werden und Seitens der Einzelperson gilt es, strikte Routinen, wann (nicht) gearbeitet wird, einzuhalten.

Weiter sollte die firmeninterne Kommunikation kanalisiert und zeitliche Puffer installiert werden. Auch soll der offene Austausch in und unter Teams gefördert und übergeordnete Ziele anstatt individueller Ziele vereinbart werden. Sanktionsfreie Frühwarnsysteme, wie beispielsweise offene Fehler- und Feedbackkultur helfen, die Vorteile der digitalisierten Arbeitswelt 4.0 ohne gesundheitsgefährdende Aspekte zu geniessen (Krause 2021).
 

Praxistipp für Begleitungsprozesse

Was bringt mir dieses Wissen in der Praxis?

Das I-Paradoxon erklärt, wieso es uns manchmal trotz all den Erleichterungen schwerfällt, von der digitalisierten Arbeitswelt vollkommen zu profitieren. Als Begleitungspersonen begeben wir uns gemeinsam mit unseren Kundinnen und Kunden in Spannungsfelder zwischen Vor- und Nachteilen. Oftmals begegnen wir dabei widersprüchlichen Gegebenheiten und unterstützen dabei, nachhaltige und individuelle Lösungen zu finden und zu gestalten.

Als Begleitungspersonen sind wir ein Bindeglied zwischen Organisations- Personal- und Persönlichkeitsentwicklung und unterstützen Firmen und Menschen dabei, auf gesundheitliche Herausforderungen eine für sich stimmige Antwort zu finden. Mit dem Verständnis über das I-Paradoxon können wir organisationale als auch individuelle Stressoren beleuchten und Handlungsvorschläge reflektieren, um Produktivität und Wohlbefinden gleichermassen zu steigern. Ebenso können wir durch das I-Paradoxon die Anliegen unserer Kundinnen und Kunden besser einordnen und verstehen und diese mit geeigneten Methoden oder Tools, beispielsweise dem 4-Schritte-Modell dabei unterstützen, Vorteile der Digitalisierung zu sammeln und mit den Nachteile erfolgreich umzugehen.


Quellenangaben

Deci, Edward / Ryan, Richard & Olafsen, Andres (2017): Self-Determination Theory in Work Organizations: The State of a Science. Annual Review of Organizational Psychology and Organizational Behavior, Vol.4. ResearchGate.

 

Krause, Andreas (2021): Gesunder Umgang mit digitalem Stress. Das i-Paradoxon verstehen und handlungsfähig bleiben. Psychologie kompakt – online. 18. October 2021. Verfügbar unter: https://irf.fhnw.ch/handle/11654/32658.



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